WHITEOUT IN KLEIN-GRÖNLAND
Wenn der Himmel mit der Erde verschmilzt und Formen und Schatten verschwinden, dann kommt die Zeit der vollständigen Leere. Ich blicke in alle Richtungen, aber wohin ich auch sehe, ich sehe nicht das Geringste. Alle paar Meter überprüfe ich meinen Kurs und vergleiche GPS-Gerät mit Karte und Kompass. Das Vorankommen ist schwierig und anstrengend. Ohne Bezugspunkt manövriere ich im Blindflug durch die eisige Landschaft und bewege mich im Kreis. Leider zeigt das GPS-Gerät aufgrund seiner Ungenauigkeit nicht meine exakte Position in dieser leeren und kontrastarmen Welt an. Unter normalen Bedingungen kann die Abweichung des Geräts vernachlässigt werden, aber im großen Nichts ist das ein Problem. Das Nichts ist ein Phänomen welches in polaren Gebieten keine Seltenheit ist. Das Sonnenlicht, welches durch eine dichte Wolkendecke bricht, wird vom Schnee reflektiert und zurück an die Wolkenunterseite geworfen, wo es abermals abprallt und in Richtung Schnee retour geschickt wird. Diese Aufsummierung der Lichtstrahlen resultiert in eine extrem helle Umgebung und das Auge wird geblendet – ein sogenanntes Whiteout, eine weiße Welt entsteht. Ohne Sonnenbrille kann das Auge durchaus Langzeitschäden davontragen. Ob es bergauf oder bergab geht, das kann nur erahnt werden, denn das Gehirn ist nicht mehr in der Lage, Entfernung abzuschätzen und kann weder Senkungen noch Erhebungen unterscheiden. Reine Orientierungslosigkeit ist das Ergebnis und der Gleichgewichtssinn wird außer Kraft gesetzt.
Ich bin auf Fjellski, das sind breite Backcountry-Ski für unwegsames Gelände, in der größten Hochebene Europas, der Hardangervidda unterwegs und sorge mich um meine nicht vorhandene Orientierung. Die Hardangervidda ist ein Plateau, welches sich mit einer Fläche von über 8000 qm² oberhalb der Baumgrenze zwischen 1200 und 1400 Meter im südlichen Zentralnorwegen erstreckt. Im Sommer ist dieser Ort ein Paradies der Farben, im Winter hingegen eine raue, eisige weiße Welt. Temperaturen bis zu -40 °C, meterhoher Schnee und extreme Winde verwandeln diese Region auf dem 60. Breitengrad in eine endlos arktische Landschaft. Viele Polfahrer trainieren für anstehende Arktis- und Antarktisexpeditionen unter den Bedingungen der Hardangervidda. Teilweise sind die Trainingsbedingungen auf dem norwegischen Plateau härter als die der eigentlichen Expedition, weshalb dieser Ort auch gerne als „Klein-Grönland“ bezeichnet wird. Er erinnert mit seiner flachen Ebene, den sanften Hügeln und den harten Winterbedingungen an den riesigen Inlandeispanzer der größten Insel der Welt. Die Hardangervidda ist der Rest einer Gebirgslandschaft, die durch Gletscher abgetragen wurde. Das „Vidda“ in Hardangervidda bedeutet im norwegischen Weite und definiert damit die unendliche Dimension des größten und kältesten Gefrierschranks Europas.
OASE
Ich mache eine Pause und schenke den heißen Tee aus meiner Thermoskanne in einen Becher. Um mich herum dominiert noch immer die Farblosigkeit – das Whiteout. Der Tee heizt mich ordentlich ein, während eine kühle arktische Brise meine exponierten Körperteile an das Limit des aushaltbaren reizt. Ich stelle mir vor, wie die Umgebung wohl ohne Whiteout aussehen würde. Mein Wahrnehmungssensor in Form der Augen hat in diesem Augenblick wenig zu tun, also male ich mir eine fiktive dunkle Linie irgendwo dorthin wo ich den Horizont vermute. Jetzt wo ich weiß, wo oben und unten ist, hat der Raum wieder einen Anker und ich stelle mir die sanften schneebedeckten Hügel bei herrlichen wolkenlosen Sonnenschein vor. Dieser Ort ist wahrhaftig nicht jedermanns erste Wahl für eine ausgedehnte und verträumte Teepause, aber ich muss gestehen, dass diese raue Whiteout-Landschaft meine Begeisterung für die polaren Regionen dieser Erde noch mehr fesselt. Ich spüre buchstäblich die kalte Landschaft und blicke ins Nichts. Irgendwie ist es ein Gefühl von Freiheit. Für den einen oder anderen mag die Vorstellung, in der kalten, einsamen und leeren Wildnis allein zu sitzen beklemmend wirken, aber für mich ist es das nicht.
Plötzlich aktiviert mein Kopf einen Song von Janis Joplin und ich fange leise an zu summen: „Freedom's just another word for nothing left to lose“. Ich bin live und mitten drin da wo ich schon immer sein wollte. Das Reisefieber - nein, der Bann der Arktis hat mich gepackt. Diese wilde, raue Natur öffnet den Zugang zum wahren Ich im Körper. Die Reise ins Nichts ist eine Reise zu sich selbst, die stärkt und den Charakter definiert. Sie führt in die unentdeckten Katakomben des eigenen Daseins, bei der man die Veränderung spüren kann und starre Gedanken aufgelöst werden. Nicht wie in der Welt zu Hause, in der der Komfort und die Sicherheit den Blick über die Grenzen blockiert. In der „Vidda“ hingegen, wird das Innere, der Kern der Gedanken und das Gespür geschärft.
Während ich noch immer träume, gleite ich im langsamen Schritttempo durch die eisige Landschaft und mein Blick verschwimmt weiterhin im weißen Nichts. Jetzt wieder: Zehn Meter laufen, anhalten, orientieren, neu ausrichten und wieder in Bewegung setzen. Das Manöver Vorwärtskommen zieht sich über mehrere Stunden. Nur wenige Kilometer schaffe ich an diesem Tag. Plötzlich schimmert ein roter Fleck am fernen Horizont. Endlich erkenne ich wieder Formen. Ungewöhnliche markante Punkte springen hier sofort ins Auge. Ich muss lachen. Diese rote Kuppel am Ende der Weite ist meine Oase in dieser unberührten Welt. Dort gibt es warmes Essen, warme Kleidung und einen warmen Schlafsack. Es ist mein Basislager, das mich vor Wind und Schnee schützt. Ich komme nach Hause. Der Temperaturunterschied zwischen „drinnen“ und „draußen“ ist jedoch marginal. Als ich endlich mein Zelt erreiche, löst sich das Whiteout allmählich auf. Immer mehr Konturen kommen zum Vorschein und das Nichts offenbart seine magische Winterlandschaft.
Das Zelt ist eingeschneit und vom Wind völlig vereist. Im Hintergrund erkenne ich vereinzelte Bäume, deren Äste von der Last des Schnees in Richtung Boden zeigen. Der Himmel ist nun grau und grenzt sich klar vom Rest der Landschaft ab. Ich genieße noch einen kurzen Augenblick die unberührte Winterlandschaft, bevor ich für die bevorstehende lange arktische Nacht in meine Behausung krieche. Es gibt nichts Schöneres, als mit roten Wangen nach einem anstrengenden Tag den Gaskocher anzuwerfen und einen Topf Schnee zu schmelzen. Es ist der Geruch und das legendäre Geräusch des zischenden Gaskochers, der dieses Ankommen in der Oase so besonders macht. Denn jetzt kann ich meine Flasche, die als Wärmflasche dient, endlich mit heißem Wasser befüllen und in den Schlafsack stecken. Nach einem kurzen Moment hat sich die Wärme in den Dauen voll entfaltet und ich schlüpfe hinein, um die wohlverdiente Wärmetherapie meiner Füße einzuläuten. Welch eine Wohltat. Jetzt ein leckeres Abendessen. Bei Kerzenlicht gönne ich mir eine große Portion Spaghetti alla carbonara und einen kräftigen Schluck Rum aus der Pulle. Die Außentemperatur interessiert mich nicht, denn ich bin warm und glückselig.