NATUREHIGH IN NORWEGEN

Ich öffne meine Augen und atme tief den Moment ein. Seichte Regentropfen kullern vom Giebel meines Zeltes auf den nassen Moosboden. In einer Senke hatte ich gestern Nacht mein mobiles Schlafzimmer am Rande eines kleinen Waldstücks aufgebaut. Es riecht nach frischem Waldboden und im Hintergrund höre ich das beruhigende Plätschern eines Bachs. Die ganze Nacht hat es geregnet und schon lange habe ich nicht mehr so gut geschlafen wie in den letzten acht Stunden. Es ist nicht kalt und mein Schlafsack diente lediglich als leichte Decke. Ich strecke und dehne mich, fühle in jeden Teil meines Körpers hinein und spüre die Vorfreude auf das nun bevorstehende Abenteuer. Aufgeregt stecke ich meinen Kopf aus dem Zelt und rufe: „Jochen, bist du wach?“. Ein vertrautes „Jaaaaaa“ brummt mir aus dem grünen Nachbarzelt entgegen. Langsam packen wir gemeinsam unsere Ausrüstung zusammen. Ich liebe den Moment des Aufbruchs, es ist das grenzenlose Verlangen und die pure Entschlossenheit endlich unterwegs zu sein, um etwas Verrücktes zu erleben. Mit Jochen bin ich schon zur geografischen Mitte Islands gewandert und kein anderer verstand mich vielleicht mehr, wenn ich von meinen Erlebnissen in der Wildnis schwärmte. Mit ihm saß ich am Rande der Arktis auf einem Berg, wir aßen eine Tomatensuppe, hörten einen Song von Springsteen und blickten mit unseren rauen Gesichtern in eine weite eisige Welt. Ich habe in ihm einen Freund fürs Leben gefunden und es sind diese Momente, die ich mit ihm teilen möchte. Irgendein unsichtbares Band verbindet uns und unsere Sehnsucht nach dem Norden. Und nun sind wir bereit für ein weiteres Kapitel unserer Abenteuer und Freundschaft.

dsc01821
dsc01822

KULISSENWECHSEL

Nach einem ausführlichen Frühstück satteln wir unsere Rucksäcke und wandern durch das idyllische Waldstück, in dem wir übernachtet haben. Es regnet noch immer – nicht untypisch für einen norwegischen Sommer. Unser kleines Abenteuer startet an einem abgelegenen Waldhang in der Nähe von Bergen. Wir kommen nur langsam voran, denn der schwere Rucksack ist, wie zu Beginn einer langen Wanderung nicht unüblich, eine große Qual. Der steile Anstieg, der glitschige Waldboden und der Regen erschweren unseren Start. Mit jedem Höhenmeter verliert der Wald jedoch seine Dichte und wir betreten die Landschaftsform, in der ich mich am wohlsten fühle – die Tundra. Der Regen ist dem Nebel gewichen und ich kann in der Ferne nur noch schemenhaft die Silhouetten der immer noch höher werdenden Felsbrocken erkennen. Wir bewegen uns in einem riesigen von grauem Gestein geprägten Irrgarten. Auf und ab klettern wir über Steinbrocken, Schneefelder und Geröll. Die feuchte Luft drückt sich in jede Ritze dieser bizarren Welt und ummantelt sie mit ihrem Schleier. Nur mit großer Mühe können wir uns orientieren und uns fortbewegen.

dsc01840
dsc01842
dsc01845

Die Schönheit des Nordens erschließt sich auf dieser Hochebene nur sehr schwer. Die Farbe Grau dominiert und kein Lichtstrahl kann die dichte Wolkendecke durchbrechen. Die Szenerie hat etwas Gespenstiges. Es ist kalt, öde, leblos und dennoch besitzt dieser Ort etwas Magisches. Stille. Die Energie der Lautlosigkeit berührt mich tief und ich versinke in der nebeligen Welt. Nach zahllosen Höhenmetern und einem anstrengenden Wandertag bauen wir unsere Zelte irgendwo in der farblosen Einsamkeit auf. Welch ein Kulissenwechsel. Größer konnte der Unterschied zur gestrigen Nacht kaum sein. Mein Thermometer sinkt auf fünf Grad Celsius und während sich die Stille langsam in meine Ohren bohrt, mummele ich mich in meinen kuschligen Schlafsack ein.

dsc01851
dsc01858
dsc01866
dsc01871

LEINEN LOS

Dasselbe Bild am nächsten Morgen. Ein raues Land bei tiefen Temperaturen. Schnell brechen wir auf, um die Wärme in unseren Adern zurückzuerobern. Und dann, nach wenigen Kilometern, erreichen plötzlich die ersten Sonnenstrahlen unsere Gesichter. Eine Wohltat. Minütlich wird es jetzt wärmer, die Wolken reißen auf, der Nebel verschwindet und am Horizont können wir die Weite der Hochebene erkennen. Auf einem Abhang steht ein riesiger V-förmiger Stein. Es macht den Anschein, als würde er jeden Augenblick vom Wind in den Abgrund getragen werden. Ein Gletscher aus einem vergangenen Zeitalter muss den riesigen Findling millimetergenau bis an diese Kante geschoben haben. Welch ein surrealer Anblick, als ob dieser Stein nicht hierhergehört. Man sollte diesen Felsen besser nicht bezwingen.

p1040056
dsc01881

Wir verweilen noch einen Augenblick und marschieren danach weglos zu einem großen See, den wir schon länger in der Ferne erkennen können. Wir wissen nicht, was uns auf dieser Reise erwarten wird, aber genau darum machen wir solche Reisen. Unsere Neugier treibt uns an. Also – Leinen los. Wir pumpen unsere Rucksackboote auf und paddeln mit leichtem Gegenwind in Richtung Sonnenuntergang. Es ist der Moment, den ich nie vergessen werde.

dsc01898
dsc01902
dsc01903
p1040123
dsc01906

LEISES LICHT

Das warme Licht des Nordens hat mich in seinen Bann gezogen. Die tiefstehende Sonne malt goldene Farben in die Landschaft und das sanfte Plätschern meiner Paddel im Wasser krönt die friedliche Atmosphäre an diesem langen Sommerabend. Voller Euphorie bewegen wir unsere Boote durch die subpolare Landschaft. Es ist ein Gefühl, das man erlebet haben muss, um zu verstehen, was die Wildnis in uns Menschen bewirken kann.

dsc01909
dsc01911
dsc01914
dsc01919

Für Stunden hält die tiefstehende Sonne unseren Atem an und um Mitternacht, nachdem wir unser Lager aufgebaut haben, können wir das ganze Spektrum dieser weißen Nacht genießen. Leichte Nebelschleier hängen zwischen den Bergen und der Mond reflektiert auf der Oberfläche der umliegenden Gewässer. Der Norden ist die Heimat des magischen Lichts. Feuchtigkeit liegt in der Luft und mein Kameraobjektiv beschlägt vollständig. Nun kann ich keine Bilder mehr knipsen und das Naturschauspiel ganz ohne Ablenkung genießen.

dsc01924
dsc01928

Als die Sonne am nächsten Tag am höchsten steht, müssen wir uns an einem Wasserfall abkühlen. Es ist mittlerweile so warm geworden, dass wir stündlich Pausen einlegen müssen. Der Wasserfall endet in einem kleinen Becken, in dem wir herrlich baden können. Das eiskalte Wasser ist solch eine Wohltat. Es ist ein traumhafter skandinavischer Sommer, der bis zum Ende unserer Tour anhalten sollte. Das Wandern fällt uns nun, nach wenigen Tagen auf Tour, viel leichter als noch zu Beginn. Meter für Meter schieben wir unsere Rucksäcke durch die norwegische Landschaft, bis wir von der Krone eines Berges in einen abgelegenen Fjord einsehen können. Es ist ein Trogtal, das durch Erosion und Rutschungen geformt wurde.

dsc01936
dsc01940
dsc01950
dsc01956

Der Anblick ist filmreif und wir pausieren ehrfürchtig an der Kante dieses Aussichtspunktes. Hinter uns liegt die vegetationsarme Tundra und vor uns erschließt sich das grüne Land. Von über tausend Höhenmetern steigen wir auf einem stillen Pfad steil hinab bis auf Meeresniveau und bemerken mit jedem Schritt die wiederkehrende Pflanzenwelt. Bunte Blumen leuchten uns den Weg durch das dämmernde subpolare Dickicht, bis wir schließlich im Tal auf einer flachen grünen Grasebene unsere Zelte aufbauen. Völlig erschöpft von dieser Tagesetappe – fast zwanzig Kilometer sind wir heute gelaufen, immer wieder auf und ab – entzünden wir ein Lagerfeuer. Es gibt nichts Besseres, als nach einem langen Tag an der frischen Luft mit einem guten Freund am Feuer zu sitzen und Rum zu schlürfen. Wir tauschen unsere Geschichten und Erfahrungen aus und lassen uns vom warmen Feuer berieseln.

dsc01961
dsc01970
dsc01978
dsc01980

ÜBER DEN FJORD

Am nächsten Morgen pumpen wir unsere Boote wieder auf, denn die nächsten zwei Tage sollten wir überwiegend auf dem Wasser verbringen. Von der Spitze dieses abgelegenen Fjords, an dem wir uns gerade befinden, paddeln wir weiter in Richtung Hardangerfjord. Das Wasser ist ruhig und gar nicht so kalt, sodass wir vor der Abfahrt ein Bad nehmen. Danach kommen wir nur mühsam voran, ich habe das Gefühl, dass wir gegen die Gezeiten fahren. Links und rechts von uns erheben sich steile Klippen, die uns, im Falle eines Notfalls, daran hindern würden an Land zu gehen. Trotz des mulmigen Bauchgefühls, alleine auf dem Wasser in einem kleinen Boot zu schwimmen, adaptieren wir uns schnell an die umliegende Wasserwelt. Nach einer Weile schmerzen mir meine Arme, Schultern und der Rücken so sehr, dass ich im Boot versuche kleine Yogaübungen einzulegen, um meinen Körper wieder zu justieren. Dabei muss ich sehr aufpassen nicht zu kentern. Wir werden müde, denn das Paddeln ist extrem anstrengend. Auf einmal sehe ich in der Ferne, ganz weit vor meinen Augen die Kuppe des riesigen Folgefonna-Gletschers. Dort liegt unser endgültiges Ziel. Der Anblick gibt uns neue Kraft und lässt uns unsere müden Knochen noch einmal richtig in Bewegung setzen.

p1040225

Bis hierhin war es windstill, doch jetzt, da wir das geschützte Gewässer verlassen und auf den offenen Hardangerfjord hinausfahren, zeigt sich uns ein anderes Bild. Es fegt nun ein heftiger Wind aus südlicher Richtung über das Wasser. Wir versuchen den Fjord von Osten nach Westen zu queren. Hohe Wellen schlagen mittlerweile permanent auf unser Boot ein und nach wenigen Minuten sind wir vollständig durchnässt. Und dann sind da diese fiesen Böen. Auf der Wasseroberfläche können wir sie schon aus der Ferne erkennen. Immer wenn das Wasser anfängt zu zittern und schwallartig auf uns zukommt, müssen wir unsere Boote nach Süden ausrichten, uns klein machen und den heftigen Windstoß über uns ergehen lassen. Schnell paddeln wir weiter, bevor wir wieder querstellen und hoffen, dass die nächste Böe nicht unser Ende bedeutet. Das geht eine ganze Weile so weiter, bis wir schließlich auf einer kleinen Insel mitten im Hardangerfjord Schutz vor dem offenen Gewässer finden. Völlig entkräftet von diesem langen Tag bauen wir unsere Zelte auf und ich habe nicht einmal mehr die Kraft mein Essen zu kochen.

dsc01986
dsc02007
dsc02015

In der Nacht rotieren meine Gedanken um den weiteren Verlauf unserer Tour. Die Querung des Hardangerfjords ist ohne Frage die Crux. Sollte es morgen stürmen, ist ein Weiterkommen unmöglich. Ich liege in meinem Schlafsack und wälze mich vor Aufregung und Angespanntheit. Viel Schlaf bekomme ich in dieser Nacht nicht ab, denn Jochen weckt mich um 5:30 und sagt: „David, der Fjord ist glatt wie ein Spiegel, wir sollten sofort aufbrechen.“ Und tatsächlich, es ist windstill geworden, die Wellen haben sich aufgelöst, die Bedingungen sind perfekt. Nach einem kurzen Frühstück starten wir unsere fünf Kilometer lange Überfahrt. Im Gegensatz zu gestern ist das Paddeln an diesem Morgen ein großer Genuss. Ohne Probleme überqueren wir das breite Gewässer und legen immer wieder Auszeiten ein, um die ruhige See und das grandiose Panorama zu genießen.

dsc02016

HOCH HINAUS

Noch am gleichen Tag steht der letzte große Anstieg an. Unser Ziel ist in Sichtweite – einer der letzten weißen Flecken dieser Erde – der Klimawandel lässt grüßen. Die Schatten wandern langsam, denn noch immer steht die Sonne hoch, während wir steil und steiler auf einem kleinen Pfad in Richtung des eisigen Riesen klettern. Vor Anstrengung fangen wir an zu keuchen. „Weiter, weiter, das ist die letzte Erhöhung“, rufe ich Jochen zu, „wir haben es gleich geschafft“. Doch der Anblick ist trügerisch, immer wieder türmt sich ein noch höherer Hügel vor uns auf. Der Gipfel scheint in unendlicher Ferne, doch nach ungefähr zwei Stunden erhaschen wir den ersten freien Blick auf die große Abrisskante des Gletschers. Ein Prachtmoment, die Szenerie ist malerisch. Der Feuerball, der unsere Erde umkreist, schwebt bei strahlend blauem Himmel über der mächtigen Gletscherkuppe. Dieser Anblick überwältigt mich und lässt mich träumen. Ich spüre die pure Lebensenergie.

dsc02031
dsc02036

Kurz bevor die Sonne hinterm Gletscher versinkt, erreichen wir endlich den Gipfel. Hier oben herrscht Totenstille und wir atmen klarste Gletscherluft ein. Die bizarren Eisbrocken funkeln im sanften Sonnenlicht. Vor solch einem mächtigen Eisberg zu stehen, ist nahezu unglaublich. Die Gletscherspalten sind so deutlich zu erkennen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Und plötzlich ertönt ein dumpfes Knacken, gefolgt von einem lauten Grollen, während große Massen der eisigen Fracht in die Tiefe fallen. Ehrfürchtig stehen wir wie kleine Kinder vor dem Eishaufen und bewundern das Naturspektakel.

dsc02042
dsc02131
dsc02056
dsc02099
dsc02138
dsc02140-pano
dsc02148
dsc02172
dsc02175

Ich blicke in den Himmel und lächele – an keinem anderen Ort möchte ich gerade sein. Es geht hier um Freiheit, Freundschaft und unseren Freigeist. Niemand will in dieser hektischen Welt den Durchblick verlieren, und deswegen bleiben wir hier unserer Linie treu und unternehmen als Team solche Abenteuer. Das ist der Grund, warum wir all die Strapazen auf uns nehmen, um die Energie zu spüren, um uns besser kennenzulernen und um das Leben zu feiern. Wir blicken auf den Gletscher, der gleich hinter den unzähligen Kilometern liegt, die wir gewandert sind, und wissen genau, hier sind wir richtig. Das ist die Oase, die unsere Lebensgeister weckt. Anstatt weiter im Alltagsinferno auf dem „Highway to Hell“ zu balancieren , sind wir jetzt „naturehigh“ von unserem Abenteuer. Genau die richtige Dosis und das Leben ist wieder einfach und unmittelbar.

KOMMENTARE

ÄHNLICHE BEITRÄGE

KOMMENTARE