NATURBUMMLER

Es ist die Stille, die uns ruft. Es ist das satte Grün und der intensive Duft der wilden Landschaft, der uns mit großer Faszination staunen lässt. Wir halten unsere Hand und blicken gemeinsam auf ein intaktes Ökosystem aus wilden Flüssen, Seen, Wäldern und Bergen, welches sich über viele Quadratkilometer am Horizont erstreckt. Hübsche Häuser, bewohnt von Vorzeigebürgern sind Fehlanzeige. Hier wohnt nur der Biber, Elch und Luchs. Zu Fuß bewegen wir uns vorsichtig durch abgelegene Täler und über sanfte Hügel. Es ist unsere gemeinsame Zeit und wir streunen synchron mitten durch unwegsames Gelände. Wir, das sind die Naturbummler, Abenteurer Nummer 1 und Abenteurer Nummer 2. Nummer 1 ist der unangefochtene Boss. Nummer 2, das bin ich stolzer Vater und die schützende Hand von Nummer 1. Zusammen residieren wir gerade im hundert Milliarden Sterne Hotel auf einem abgelegenen Gipfel in unserem Zelt. Es bläst eine gemäßigte Brise und ich koche das Abendessen, während Abenteurer Nummer 1 die Baumkronen der wenigen Bäume, die auf dem Gipfel stehen, erklimmt. Er möchte hoch hinaus, bis er einen noch besseren Blick über die atemberaubende Landschaft erhaschen kann. Ungesichert besteigt er Bäume, die weit über zwanzig Meter in die Höhe schießen. Zur gleichen Zeit bediene ich seelenruhig, aber mit wachsamen Auge Richtung Baumkrone den Gaskocher. Ich vertraue Nummer 1 und lasse ihn frei seine Umgebung erkunden. Wenn ich meinen Sohn beobachte, wie er auf Bäume klettert, muss ich demütig über die Kinder in der Welt nachdenken, die in Megastädten aufwachsen, in denen von der ursprünglichen Natur nicht viel übrig geblieben ist. Ihre Köpfe sind vergiftet von Abgasen und vielerorts wachsen Kinder in Armut ohne Perspektive und Ziele auf. Unfertig wie kein anderes Geschöpf wird der Mensch auf unserem Planeten geboren und entwickelt in großen Städten, fern der wilden Natur, in einer reiz-überfluteten Welt seine Persönlichkeit. Das Resultat sind permanente Unruhe, Rastlosigkeit und Konzentrationsprobleme. Sie entfremden sich ihres eigenen Ursprungs und gehen dann mit Fahrradhelmen in den Wald. Für junge Menschen, nein, für alle Menschen, egal ob jung oder alt ist die Natur genauso überlebenswichtig und essenziell wie Liebe, Licht und Wasser.

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WALDSCHULE

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang streifen wir durch die Wälder Norwegens. Der frisch riechende Duft des Mooses ist uns allseits auf dem Fersen. Fahle Lichtstrahlen treffen auf den weichen Waldboden und im Wind funkeln die grünen Blätter. Auf einer kleinen Lichtung lernt Nummer 1 den Umgang mit der Axt, dem Messer und der Säge. Seine Fähigkeiten stellt er beim Bau eines permanenten Unterschlupfs unter Beweis. Er zeigt großes Geschickt und bedient das Werkzeug souverän wie ein alter Zimmermann mit viel Ruhe und mit beachtlicher Feinmotorik. Querschläger sind die große Ausnahme. Er spaltet das Totholz, sägt dünne Baumstämme auf Maß und überprüft die Konstruktion auf Schwachstellen. Schließlich soll der Bau den strengen Winter Norwegens überstehen. Unser Walddomizil bietet Platz für zwei Personen. Küche, Bad inklusive. Das angelehnte Moosdach schützt das Holzbett vor den Elementen. Die gemütliche Feuerstelle, die im Vorgarten lodert, dient als Hitzepilz und Kochstelle zugleich. Hinter den Grenzen des Vorgartens ist der Abort für dringen Geschäfte. Das Lager, das wir ausschließlich aus Waldmaterialien erschaffen haben, ist unser Ort der Erholung. Hier können wir sein wie wir sind. Für Nummer 1 hat der Wald schon immer eine besondere Kraft. Wenn er die Geheimnisse des Waldes erforscht, dann strahlen seine klaren und großen Augen, in denen sich die Bäume spiegeln. Vor dem Einschlafen lauschen wir bei abnehmenden Halbmond und leichtem Nebel den Geräuschen des Waldes. Das Wild, das sich um uns herum tummelt, ist oft unsichtbar. Erst die Aufzeichnungen meiner Wildkamera entschleiern die mystischen Tiergeräusche und zeigen die kräftigen Exemplare in voller Größe. Wir lernen die Fußspuren und das Verhalten der Tiere und dessen Artenvielfalt kennen. Ich wusste nicht, dass zur Familie der Marder rund siebzig Arten zählen. Nerz und Dachs entfachen unsere Begeisterung den Tieren aufzulauern und sie zu beobachten. Hier draußen, das ist auch Schule, nur ganz ohne Zwang und mit Mutter Erde als Lehrer. Plötzlich wird es ganz still, das Feuer ist aus und die Magie des Waldes zieht uns in das Vakuum der absoluten Ruhe.

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KREATUREN DER EISZEIT

Große Ereignisse prägen uns. Die Abende am Lagerfeuer, die wir zu zweit tief in der Wildnis erleben, sind voller Wärme, Vertrauen und Geborgenheit. Wir schmieden Pläne, lachen und erzählen uns Geschichten. Wir hören die Stille, so laut das wir das Abenteuer ganz nah spüren können. Es ist ein Gefühl, das tief unter die Haut geht und uns ganz klein und unbedeutend erscheinen lässt. Die Wildnis im Reich der Eiszeitkreaturen fühlt sich nach Zuhause an. Nachdem ich das Dovrefjell schon einmal im Winter besucht habe, bin ich nun mit Abenteurer Nummer 1 im Sommer bis zu meinem persönlichen Lieblingsort vorgedrungen. Wir entdecken die wilde Schönheit des Fjells und wollen die Geschöpfe hautnah erleben. Zahllose Kilometer marschieren wir durch unwegsames Gelände, nur um einen Blick auf die mächtigen Tiere zu erhaschen. Jeder Schritt ist mühsam. Im Verlaufe des Sommer durchlaufen die Blumen und Pflanzen im Fjell das komplette Farbspektrum und verzaubern die Landschaft in eine farbenprächtige Oase. Es ist schwer, die getarnten Tiere in der Weite ausfindig zu machen und es gleicht der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Unser Zelt schlagen wir in einer Senke auf, die gut geschützt vor dem Wind am Rande eines kleinen Baches liegt. In der Ferne entdeckt Nummer 1 den ersten Moschusochsen mit seinem Feldstecher. Durch das optische Vergrößerungsglas lässt sich der Unterschied zwischen Tier und Stein nur erahnen. Dennoch sind wir uns sicher, der schwarze Fleck, der sich circa zwei Kilometer entfernt an der Felswand entlang faltet, ist der Grund, warum wir hier sind. Ganz ohne Musik tanzen und hüpfen wir getrieben nur von Freude und Euphorie an diesem einsamen Ort. Wir brüllen in die Ferne. Zum Glück hört uns niemand. Stolz verstauen wir die Entdeckung als Souvenir tief in unsere Herzen. Für einen Moment verharrt der Augenblick, bevor wir uns ins Zelt zurückziehen. Am nächsten Morgen öffne ich den Reißverschluss des Zeltes. Verschlafen prüfe ich die Umgebung und erstarre. Vorsichtig versuche ich mit meinem Ellbogen Nummer 1 aus dem Land der Träume zu reißen. Ich frage ihn: „Waren diese zwei Steine gestern auch schon dort?“, er antwortet: „Paapaa, das sind zwei Moschusochsen.“ Wir sind schockverliebt. Was für eine Begegnung. Majestätisch grasen die großen Tiere, die noch vor 30 000 Jahren Seite an Seite in der Eiszeit mit den Mammuts durch Skandinavien wanderten, wenige Meter vor unserem Zelt. Das sind spontane Lodgeplätze in erster Reihe vor einer atemberaubenden wilden Kulisse. Vorsichtig und langsam entfesseln wir uns aus unseren Schlafsäcken und rüsten uns für den Tag. Die Kamera ist scharf und wir robben auf allen vieren durch das Gras. Ich setze an und halte die Kreaturen, die in ihrem natürlichen Habitat leben, für die Ewigkeit auf meiner Speicherkarte fest. Stundenlang beobachten wir die Geschöpfe wortlos. Man kann sich vorstellen, dass ein kleines Kind, das im Zoo viele Tiere zu Gesicht bekommt und von einer Sensation zur nächsten rennt, völlig aufgeregt und losgelöst ist. Aber in diesem Fall steht das Tier nicht hinter einem Zaun und mein kleiner Mann rast nicht ruhelos umher, sondern liegt vielmehr wie versteinert im Gras und beobachtet ehrfürchtig die mächtigen Tiere. Im Zoo sprintet man mit einem Softdrink in der Hand von Käfig zu Käfig. Hier hingegen, wo der Himmel mit dem Horizont verschmilzt, sehen wir die letzten Überlebenden der Eiszeit in der offenen Tundra. Der intelligente Blick meines Sohnes verrät mir, dass er, genau wie ich, vom menschenleeren Wildnis-Modus infiziert ist. Mit Modus meine ich den ruhigen, respektvollen und geerdeten Zustand im Hier und Jetzt zu sein, um dem Leben mit all seiner Schönheit, lebenslustig, leidenschaftlich und hoffnungsvoll zu begegnen. Vergleichbar mit dem Flugzeugmodus am Mobiltelefon, nur ohne Gerät. Das Leben wird hier auf das Wesentliche heruntergebrochen. Es ist eine Wohltat für Kind und Mann. Ich bin dankbar, diese Momente mit Nummer 1 teilen zu können. Bis spät in den Abend verfolgen wir die Moschusochsen. Mein Tacho zeigt mittlerweile siebzehn Kilometer absolvierte Wegstrecke an. Es ist die Zeit gekommen, das heimatliche rote Zelt ausfindig zu machen und endlich das wohlverdiente Abendessen zu kochen.

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ØRRETFEBER

Die Ernährung ist ein wichtiges Thema, wenn man wie wir als Naturbummler überwiegend, draußen unterwegs ist. Nahrhaft und energiereich soll sie sein, damit wir der rauen Natur des Nordens standhalten können. Nummer 1 ist ein leidenschaftlicher Angler, denn er fischt regelmäßig große Fische aus Fluss und See. Ihm schmecken die Fische köstlich und sie sind die perfekte Draußen-Nahrung. Wenn Nummer 1 seine Angel auswirft und der Windzug der Rute gefolgt von einem dumpfen „pflob“ des Köders, der die spiegelglatte Wasseroberfläche durchdringt, zu hören ist, dann erlebt er seinen archaischen Trieb der Nahrungsbeschaffung. Nummer 1 fischt, und wenn er das tut, dann mit Präzision, Ausdauer, Geduld und Leidenschaft. Es ist für ihn keine große Herausforderung, mehr als acht Stunden am Ufer zu stehen und geduldig zu warten, bis endlich ein Fisch beißt. Mutter Natur legt ihm den Mantel der Ruhe und Geborgenheit um. Keine Ablenkung, nur das Gewässer und er. Das Rauschen eines Wasserfalls in der Ferne oder die sanften Flügelschläge der Vögel, die über uns kreisen, kombiniert mit all den beruhigenden Hintergrund-Geräuschen, die sein Gehör auf die kleinsten Töne trainieren, wirken meditativ. Er genießt die Kulisse und ich spüre das. Unsere Zielfische sind die Ørrets, die norwegischen Forellen, die wild und unersättlich durch die klaren Gewässer schwimmen. Manchmal erbeuten wir auch einen Saibling oder einen Barsch, doch die Ørret mit ihrem roten Fleisch ist unser Favorit und der ist wohlschmeckender als jeder Lachs aus dem Supermarkt. Wir sind infiziert mit dem Ørretfeber (Forellenfieber), eine Fieberform, die nur in Norwegen existiert und unheilbar ist. Die Ufer der wilden Gewässer sind unsere habitale Zone, in der wir uns auf und ab bewegen. Ich liebe den „Fiiisch“- Ruf von Nummer 1, wenn wir mehrere Meter auseinanderstehen und er mir damit signalisiert, dass er erfolgreich war. Dieses „Fiiisch“ ist so herzallerliebst und erzeugt in meinem Bauch bei jedem Fang immer wieder ein behagliches Gefühl. „Fiiisch“ ich träume jede Nacht davon. Der Erfolgsruf meines Sohnes beruhigt mich und macht mich unendlich glücklich. Das Durchschnittsmaß der Ørrets liegt meistens zwischen dreißig und vierzig Zentimeter. Die perfekte Größe für eine Mahlzeit. Schwungvoll manövrieren wir unsere Routen bis spät in die Dämmerung.

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Zufriedenheit macht sich breit, denn der Tag war ein voller Erfolg. Bis hierher zwei massige Fische, aber ich setze noch einmal zu einem letzten Wurf an. Gezielt werfe ich meinen Drilling stromaufwärts in eine Senke. Es ist Ende August, die letzten weißen Nächte des Jahres bieten uns ausreichend Licht, um die stille Landschaft mit all unseren Sinnen wahrzunehmen. In unserem Paradies kurbele ich meinen Köder nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam zurück in Richtung Ufer. Plötzlich erzittert meine Rute mit einem heftigen Rums. In Sekundenbruchteilen folgt ein Fluchtversuch und lässt das ruhige Gewässer toben. Meine Rolle surrt mit einer rasenden Geschwindigkeit, der Fisch nimmt Leine und möchte fliehen. Er stürzt sich in die Tiefe und ich versuche meine Bremse zu justieren, um ihn besser kontrollieren zu können. Die Rute biegt sich unterdessen bedenklich stark. Ich bin nur mit leichter Ausrüstung unterwegs und befürchte, dass die Rute brechen könnte. Doch ich vertraue meinem Material und freue mich, dass ich endlich an der Reihe bin: „Fiiisch!“ Nummer 1 spurtet zu mir rüber und beobachtet, wie augenblicklich das Geschoss aus dem Wasser springt, sich überschlägt und fluchtartig wieder in der Tiefe verschwindet. Ich kurbele, stoppe, ziehe die Rute mit aller Kraft nach oben, lasse sie wieder ab und kurbele weiter. Im Zickzack schwimmt der Salmonide rasend schnell, nervös und irritiert in alle Winkel des Gewässers. Mein Puls ist aufgedreht, die Rutenspitze zappelt, der Fisch springt, kämpft und rotiert sich durch alle existierende Freiheitsgrade durch. Bis auf drei oder vier Meter ist das Prachtexemplar breites an uns herangekommen und wir erhaschen einen Blick auf die wahre Größe dieses Kolosses. Es ist die erste kapitale Wildforelle meines Lebens, die dort am Haken hängt und mein Sohn ist live dabei. Der Drill ist beeindruckend und ich bin verblüfft, mit welchen kraftvollen Bewegungen die Ørret tapfer kämpft. Ein weiteres Mal gebe ich Leine. Der Fisch ist noch lange nicht müde. Torpedoartig schießt er zurück auf das offene Gewässer. Wieder dieses schnelle, harmonische Surren meiner Rolle. Faszinierend beobachte ich die Fahrt meiner Beute. Die Spannung steigt. Lautlos schweift mein Blick rüber zu Nummer 1. Wir werfen uns ein glückseliges Grinsen zu. Ich erkenne seinen hellwachen Gesichtsausdruck und bete, dass wir diesen Fisch landen. Hoffnungsvoll haue ich die Bremse rein und das gleiche Spiel beginnt vor vorn. Kurbeln, stoppen, Rute ran, kurbeln. Doch diesmal sind die Bewegung des Fisches nicht mehr so hektisch und kraftvoll wie wenige Minuten zuvor. Immer sanfter gleitet das Geschöpf, das wie ein U-Boot kurz unter der Wasseroberfläche schwimmt, in Richtung Heimathafen. Mit schweren und langsamen Manövern schlägt die Ørret die letzten Purzelbäume, bevor ich den Koloss an Land bugsiere. „Jaaaaaaaaaa“, schreien wir energetisch und liegen uns in den Armen. Nummer 1 ruft aus voller Kehle: „Paaaapaaaa“ und genau wie bei den Moschusochsen tanzen und hüpfen wir vor Freude. Ich zittere und vibriere voller Euphorie und Adrenalin. Das letzte Mal, dass ich solch eine Aufregung verspürt habe, war, als ich in Grönland alleine durch Eisbären-Gebiet gewandert bin. Die Fassungslosigkeit über unseren Fang ist gewaltig. Über eine Stunde dauert es, bis die Aufregung sich langsam legt und wir realisieren, was für ein Geschöpf wir aus dem klaren See katapultiert haben. Fünfundsiebzig Zentimeter Länge bei einem Gewicht von ungefähr sechs Kilogramm. Das sind die mächtigen Eckdaten. Unser Puls hat sich mittlerweile auf Normalbetrieb eingependelt und wir beobachten, wie der Nebel langsam aus dem Wasser steigt. Es ist an der Zeit, sich vom Ørretfeber zu erholen. Diese gewaltige Ørret zusammen mit meinem Sohn zu erleben und zuzusehen, wie er zum Mann heranwächst, ist ein Geschenk des Lebens. Hier draußen verbinden wir uns mit unseren eigenen Wurzeln. Ohne Leistungsdruck dürfen wir hier Kind und Mann sein. Wir erforschen die Welt gemeinsam und von nun an weiß ich: „I will never fiiisch alone again“.

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