IM REICH DER GEFRORENEN WILDNIS

Zwischen verschneiten Hügeln und verborgenen Seen gleich hinter dem nächsten Wintermärchenwald, liegt das Reich der gefrorenen Wildnis. Es ist die eisige Heimat einer verlassenen und geheimnisvollen Welt. Extreme Kälte entriss dieser Landschaft das Leben. Leblos, aber nicht langweilig, denn dieser Ort steckt voller Faszination. Da sind die Bäume, die im tief stehenden Licht der Wintersonne leuchten oder die Felsen, die mit einer dicken Eisschicht überzogen sind. Ich staune und fühle im Schutz der langen Schatten den außergewöhnlichen Zauber dieser kalten Jahreszeit. Mein Weg führt in das Herz der eisigen Schönheit, auf einen abgelegenen, zugefrorenen See.

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Ich bin dick eingemummelt wie ein Inuit und setze langsam einen Fuß vor den anderen. Das sanfte Knirschen meiner Schritte im Schnee und mein ausgeglichener Atem sind die einzigen Geräusche, die ich vernehme. Ich bin umhüllt von einer besinnlichen Ruhe, die an ein Vakuum erinnert, in dem sich Schallwellen nicht ausbreiten können. Doch plötzlich verliere ich das Gleichgewicht, ich zucke zusammen, höre ein lautes donnern und spüre eine ruckartige Bewegung unter meinen Füßen. Das Eis lebt! Mit weichen Knien prüfe ich meine Umgebung. Der tiefgekühlte See ist gleichmäßig eben wie ein Spiegel. Nur eine sanfte Schneeschicht bedeckt das ungefähr vierzig Zentimeter dicke Eis. Eine gerade Fläche, die man mit solch einer Genauigkeit nicht einmal auf dem Reißbrett replizieren kann. Nur manchmal erkenne ich kleine Anhäufungen von Schnee und lange Risse im Eis. Die angsteinflößenden Geräusche des Sees lassen meinen ausgeglichenen Atem stocken. Das ächzen, das grummeln und das peitschen des Eises stört die Stille. Der Spuk dauert nur wenige Sekunden, danach ist alles vorüber, bis die arktische Kälte das Eis wieder zusammenzieht und in der Tiefe Bewegungen entstehen, die diesen geheimnisvollen Geräuschen wieder und wieder Impulse geben.

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WINTER, SONNE, STRAND

In Norwegen gibt es sie noch, die vier Jahreszeiten und der Winter ist ein echter Winter. Seit Monaten herrschen minus Temperaturen und heute, am bisher kältesten Tag des Jahres, scheint die Sonne. Klare Luft, blauer Himmel, kaltes Gesicht. Das fühlt sich gut an. Ich bin froh hier zu sein und laufe vorsichtig weiter über die harmonisch bedeckte Schneedecke des Sees. Ich erkenne Spuren von Elchen und Schneehasen. Ich selbst hinterlasse die ersten Menschenspuren, welche anders als die Abdrücke der Wildtiere das gleichmäßige Bild der weißen Pracht verunstalten. Mir fällt es schwer, den Schnee zu betreten, denn irgendwie möchte ich diese reine Oberfläche nicht zerstören. Wenn ich hin und her laufe, um Fotos zu knipsen, dann versuche ich immer wieder in vorhandene Spuren zu treten. Vielleicht ist das albern, aber ich fühle mit dem ästhetischen Anblick dieser Landschaft und respektiere die Unberührtheit.

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Die Spur von einem Schneehasen.

Ich schaue mich um und überlege, wo ich mein Zelt positioniere. Ich möchte so lange wie möglich das Sonnenlicht genießen, um das Tageslicht und das Quäntchen Wärme optimal auszunutzen. Selten gibt es so viele gute Aussichten auf eine ebene Schlafposition wie am heutigen Tag. Tausende Quadratmeter stehen mir zur Verfügung und die Entscheidung, wo und in welchem Winkel ich mein Zelt aufstelle, fällt mir sichtlich schwer. Ich vergleiche Sonnenstand mit Uhrzeit und entscheide mich schließlich für eine Position in Ufernähe mit südwestlichen Blick. Das klingt so, als würde ich mir den perfekten Handtuchplatz am Sandstrand in der Karibik suchen. Aber ich bin mir sicher, hier wird mir heute definitiv keiner den Platz streitig machen. Ich setze meinen Rucksack ab und baue das Zelt auf. Diesmal habe ich dafür Schrauben und Schraubendreher dabei, die als Hering Ersatz dienen. Zuerst bohre ich mit dem Taschenmesser ein kleines Loch ins Eis, um das Gewinde besser ansetzten zu können. Danach versuche ich ohne Handschuhe und mithilfe des Schraubendrehers die Schraube einzudrehen. Wenn der Winkel nicht stimmt, platzt das Eis ab und das Gewinde findet keinen Halt. Schon jetzt, um drei Uhr nachmittags, ist es minus achtzehn Grad und mir friert das Stahl am Finger fest. Mehrmals muss ich ansetzten, um den perfekten Winkel zu finden, bis die Schraube schließlich sitzt. Nach einer Weile und nahezu tauben Fingerspitzen habe ich alle sechs Anker versenkt. Bevor ich das Zelt final abspanne, warte ich noch einige Minuten, bis das Eis die Schrauben einfriert.

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DER REIZ DER HERAUSFORDERUNG

Der See rumort, während ich im Zelt sitze und den Sonnenuntergang genieße. Sobald die letzten Strahlen am Horizont verschwunden sind, wird es kälter. Ich schüttele mich, denn die Temperatur sinkt unter meinen persönlichen Wohlfühl-Schwellwert von minus zwanzig Grad. Ich friere nicht, es sind vielmehr die Nebenwirkungen, die diese Kälte mit sich bringt. Alles ist gefroren. Das Gehäuse meiner Kamera ist mit einer dicken Eisschicht überzogen. Der Akku hält keine fünf Minuten mehr und sogar meine Zunge friert am Löffel fest. Es wird unangenehm, aber ist das nicht der Grund, warum man raus geht? Ich weiß genau, dass ich mich hier draußen außerhalb meiner Komfortzone bewege. Und das der Gedanke an das Szenario, alleine und einsam bei arktischen Temperaturen auf einem gefrorenen See zu sitzen, beängstigend sein kann. Doch wenn man es schließlich wagt, wird das Selbstvertrauen enorm trainiert und gesteigert. Solch Erfahrungen werden zum Teil des Lebens und des eigenen Charakters. Sie helfen, zukünftige, unangenehme oder herausfordernde Situationen besser zu meistern, weil man stark ist. Wer aber die Komfortzone nie verlässt und sich im Rahmen seiner Grenzen bewegt, wird sich nicht fordern und fördern. Hingegen können die Momente, die mit Stress und Anstrengung verbunden sind, ein Kickstart in Richtung selbstbestimmtes Leben sein. Die vertraute Welt ist dann ein Ort, den man bestenfalls noch zur Erholung und zum Ausruhen aufsucht. Wer dort aber verweilt, der muss sich fügen und begreifen, dass Freiheit nur ein Wort zum Träumen ist. Als Teil der großen Menge, die Tag für Tag das Gleiche tut, wird man sich nicht weiterentwickeln. Immer auf Komfort abzuzielen und den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen ist schlecht, richtig schlecht. Greift man aber hohe Zielsetzungen an und dreht seinen Verstand auf, dann ist alles möglich. Niemand erreicht etwas ohne Anstrengung. Ich selbst fühle mich immer dann glücklich, lebendig und erfüllt, wenn ich herausfordernde Situationen auf Expeditionen gemeistert habe. Unterwegs fange ich an, Dinge zu vermissen, die ich niemals vermissen würde, wäre ich zu Hause geblieben. Das nach Hause kommen wird damit zu einer puren Freude und ich kann die Annehmlichkeiten der vertrauten Welt bewusster genießen.

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NATÜRLICHER MEDIKAMENTEN-COCKTAIL

Bohnen, Feta, Mais, Zwiebeln und Kartoffeln. Das sind die Zutaten, mit denen ich das Abendmahl einläute. Über dem Feuer schwingt die Gusseisenpfanne und es riecht nach Abenteuer. Der Rauch der Flammen legt sich über den See und im Süden leuchtet sichelförmig der Mond am Horizont. Die trockene, klare Luft verspricht eine knackig kalte Nacht. Das dumpfe Ploppen des Sees irritiert mich nicht mehr, denn jetzt fühle ich mich geborgen und bin nach einer kurzen Eingewöhnungsphase voll im Element. Unter freiem Himmel diese einfache, aber unvergessliche Mahlzeit zuzubereiten ist ein Genuss. Ich nehme den Geruch intensiver als zu Hause war und das beruhigende Knistern des Feuers schallt angenehm durch das Reich der gefrorenen Wildnis. Es ist eine meditative Stimmung und als das Essen endlich fertig ist, verneigen sich meine Geschmacksrezeptoren.

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Ich werde müde und blicke hinauf in den Sternenhimmel. Die Dunkelheit zieht durchs Land und schon lange habe ich nicht mehr so viele Sterne ohne Lichtverschmutzung zählen können. Ich erkenne mindestens zehn mir bekannte Sternenbilder. Die Punkte im Kosmos erscheinen so klar und scharf, dass ich sie am liebsten greifen möchte. Ich nehme meine zwei Isomatten und den Winterschlafsack aus dem Zelt und entscheide mich auf dem Eis, ohne Dach, aber mit direktem Blick auf das Universum zu nächtigen. Es ist windstill und kein Schauer in Sicht, deswegen wage ich es, das Cowboy Camping. Das unheimliche Knacken des Sees ist nun vorerst vorüber, jedenfalls habe ich es seit ungefähr einer Stunde nicht mehr gehört. Stattdessen vernehme ich jetzt, tief eingetütet im Daunensack bei einundzwanzig Grad unter null, in der Ferne einen Waldkauz durch die dunkle, leise Nacht rufen. Es ist ein mystisches „Huu“, welches dicht gefolgt von einem „Huu-hu-huhuhuhuu“ durch die Wildnis schalt. Geheimnisvolle Eiszeit-Atmosphäre. Die Eule gibt dem Szenario noch die extra Prise Spannung mit. Ich bin überwältigt von der Kulisse der schwarzen Nacht und genieße den erholsamen natürlichen Medikamenten-Cocktail in Form von Ruhe und frischer Luft. Pudelwohl fühle ich mich im Schlafsack, der mich trotz eisiger Temperaturen extrem warm hält. Das dominante „Huu-hu“ verfliegt mehr und mehr im Hintergrund, bis alles schließlich verstummt und ich die Leere des Vakuums spüren kann. Meine Lider werden allmählich schwerer, ich ziehe den Schlafsack bis zum Anschlag zu, als ich eine lange Sternenschnuppe erkenne. Danach schließe ich die Augen – mögen noch viele dieser abenteuerlichen Momente auf mich warten.

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