QUER DURCH ISLAND
EINE REISE ZU FUß
Draußen vor der Tür! Ich wusste dort finde ich neue Kraft. Ich war bereit! Bereit für ein Abenteuer. Ich musste nach Island, um mich zu entschleunigen. Zweieinhalb Monate alleine durch die weite Einsamkeit! Ich wollte den Zustand der Ballastlosigkeit erreichen, dem Alltag entfliehen und den Tod meines geliebten Vaters verarbeiten. Einfach einmal komplett raus sein. Mein Ziel war es, die Insel von Süd-West nach Nord-Ost zu durchwandern. Zu Fuß, eine Fernwanderung, durch Island. Vor mir lagen ca. 1000 Kilometer abgeschiedene Tundra- und Küstenregionen. Nie zuvor habe ich solch eine Unternehmung geplant. Ich wusste nicht was mich erwarten würde und wie man sich auf ein solch großes Abenteuer vorbereitet. Völlig unbeeindruckt und naiv wusste ich: „mein Kompass zeigt Richtung Norden“. Die Vorbereitungsarbeiten waren mühevoll und anstrengend. Immer wieder habe ich das Internet nach Ausrüstungstipps befragt. Zwischen dem Tod meines Vaters und dem Start meiner Wanderung lagen nur zwei Monate. Ich hatte wenig Zeit für meine Vorbereitungen und war darüber hinaus mental am Ende. Das Verlangen jedoch, mich endlich loszureißen wurde von Tag zu Tag größer. Zuzusehen wie sich die Welt unbeschwert weiter dreht war für mich unerträglich. Nur das große Ziel Island war mein Antrieb in dieser schwierigen Vorbereitungszeit. Zelt, Rucksack, Kocher, Wanderschuhe, Schlafsack, Isomatte und GPS-Gerät, um nur einige zu nennen, mussten besorgt werden.
Aber nicht nur die Ausrüstung fehlte, auch meine körperliche Fitness war Kilometer weit von dem entfernt, was mich auf Island erwartete. Innerhalb kürzester Zeit versuchte ich durch intensives Training meine Kondition und Kraft zu verbessern. Wie viel Kraft ich benötigten würde, war mir zu Beginn nicht bewusst. Als ich die ersten Meter auf isländischem Boden mit vollbeladenem Rucksack absolviert hatte, wurde mir klar, diese Reise würde alles von mir abverlangen. Kaum war ich einen Tag unterwegs wurde meine Wasserversorgung knapp. Ich musste sehr sorgsam mit meinen Wasserreserven umgehen, da ich am Anfang der Reise durch sehr trockenes Gebiet gewandert bin. Die Route präsentierte sich in grenzenloser Schönheit. Die Landschaft war anfangs sehr monoton, aber trotzdem spektakulär und in keinster Weise langweilig. Ich wanderte entlang der amerikanischen- und eurasischen Kontinentalplatten. Diese Platten erstrecken sich über die ganze Insel.
Das Wetter wurde von Tag zu Tag schlechter und das im „isländischen Hochsommer“. Der Wind peitsche in mein Gesicht und der Regen wurde immer stärker. Es regnete Tage lang und das Weiterlaufen entwickelte sich zu einer Qual. Meine Bekleidung konnte ich zu keiner Zeit trocken halten. Nachts lag ich meist nackt im Schlafsack, um die Kleidung trocknen zu lassen. Vergeblich! Es war zu kalt und die Luftfeuchtigkeit viel zu hoch. Jeden Morgen kostete es mich die größte Überwindung, in die nassen Kleider zu steigen und weiter durch den Regen zu marschieren. Immer wieder war es die Kraft meines Vaters, die mich durch die Landschaft Islands prügelt. Ich merkte immer mehr, wie ich Schritt für Schritt meinen seelischen Ballast verarbeitete. Das Wandern wurde zu einer Art Meditation. Ich konnte mich voll auf mich selbst konzentrieren und machte mir nur noch um das Wesentliche Gedanken. „Wo gibt es Wasser und wo finde ich ein geschütztes Nachtlager?“ Meine Reise führte mich an heißen vulkanischen Quellen vorbei. Sie waren wie ein Bonbon nach all den Strapazen. Die erste Dusche auf meiner Wanderung durfte ich unter einem warmen Wasserfall in der Natur genießen. Ein überwältigendes Gefühl. Ein Gefühl von absoluter Freiheit und Zufriedenheit.
Nahrung hatte ich für jeweils zwölf Tage in meinem Rucksack. Die weitere notwendige Verpflegung ließ ich mir vorab von Reykjavik aus, an die über das ganze Land verteilten Wanderhütten liefern. In regelmäßigen Abständen von neun bis zehn Tagen, führte mein Weg an einer dieser Hütten vorbei. Vor Ort konnte ich meine Reserven erneuern, zwei bis drei Tage verweilen und etwas Zivilisation genießen.
Der weitere Verlauf meiner Reise machte mich fertig. Das Wetter wurde immer härter. Ich kämpfte mit Sand- und Schneestürmen. Die Temperatur sank mehrmals unter null Grad. Ich spielte mit dem Gedanken meine Tour abzubrechen. Doch selbst das war schwierig. Ich war gefangen in der Wildnis. Mindestens drei bis vier Tage Fußmarsch von der nächsten Zivilisation entfernt. Raus aus meiner Komfortzone. Die Natur zeigte mir meine Grenzen. Sie ließ mich von Sekunde zu Sekunde kleiner werden und interessierte sich nicht für mich. Ob ich nun dort war oder nicht, spielte für sie keine Rolle. Ich musste sehr oft weinen und mein Körper schmerzte von den Strapazen. Dennoch gab mir das Draußensein, fernab der Zivilisation, das Gefühl von Glückseligkeit. In meinen schwersten Stunden war ich ein glücklicher Mann. Ich war mit der Spärlichkeit, die mir in dieser Abgeschiedenheit geboten wurde, völligst zufrieden. Der Anblick der grenzenlosen Landschaft ließ meine Augen funkeln. Ich konnte stundenlang da sitzen und diese kolossale Schönheit in meinem Inneren fühlen und genießen. Island, die urgewaltige Kostbarkeit im Norden unseres Planeten.
Ich war schon mehrere hunderter Kilometer unterwegs. Die Landschaft veränderte sich immerfort. Vorbei an mächtigen Gletschern, Vulkanen, zahllosen Wasserfällen und farbenprächtigen Gebirgszügen. Ich lief langsam, aufrecht und mit kraftvollem Schritt. Das Wetter jedoch wurde nicht besser. Manchmal musste ich tagelang im Zelt verharren und die Schlechtwetterfront aussitzen. Wann im Leben hatte ich schon einmal so viel Zeit? Kein Termin, der auf mich wartete. Die Zeit verging nicht mehr im Fluge wie zu Hause. Jeden Tag ging ich einen neuen Weg, jeder Tag auf meiner Wanderung war ein neues Abenteuer. Ich wusste niemals was mich als Nächstes erwarten würde. Es war faszinierend unterwegs zu sein. Je länger ich unterwegs war, je mehr wurde ich ein Teil der Natur. Teilweise lief ich auf markierten Wanderwegen auf denen ich keinem einzigen Menschen begegnete. Die meiste Zeit aber lief ich weglos mittendurch. Das Laufen war dort besonders schwierig. Meine Schuhe standen gerade bis zum Knöchel im Matsch, als sich unzählige Arme eines Gletscherflusses den Weg in ihre Ungezwungenheit bahnten. Ein Umgehen der Arme war nicht möglich. Ich schnürte meine Wanderschuhe am Rucksack fest und zog meine Sandalen an. Meine Wanderstöcke fuhr ich auf maximale Länge aus, um besten Halt in den Strömungen zu haben. Das Wasser war eisig kalt. Ohne Hose durchlief ich das von Sedimenten durchtränkte Wasser. Auf der anderen Seite angekommen spürte ich meine Beine nicht mehr. Schon nach wenigen Sekunden in diesem Wasser, verliert sich jedes Gefühl in den Gliedmaßen. Einen Augenblick der Unaufmerksamkeit kann hier das Leben kosten.
Mein Ziel im Nord-Osten, dem nördlichsten Punkt der Insel, war nicht mehr fern. Hundertfünfzig Kilometer vor der Küste wurde das Wetter besser. Das Hochland in meinem „Rückspiegel“ behielt das schlechte Wetter für sich. Die Sonne, die mir nun in das Gesicht schien, mobilisierte meine letzte Kraft für die verbleibenden Tage. Das Landschaftsbild zeigte auch auf den letzten Metern neue Facetten. Mein Weg führte durch Moos durchtränkte Moorgebiete. Es wurde flach. Keine heftigen Anstiege mehr. Ein Trost für meine Füße und Knie. Ich fing laut an zu singen und marschierte zum Leuchtturm der auf der Karte mein Ziel markierte.
Die Wanderung durch Island rückte meine Auffassung vom Leben zurecht. „Einfach Leben“, heißt mehr Zeit zum Leben. Als Teil der Natur habe ich die Freiheit gespürt. Die Trauer in mir ist irgendwo in den Bergen verschollen gegangen. Mein Vater hatte mir die Reise ermöglicht. Ich hatte den Tod akzeptiert. Trotzdem fehlt er meinem Leben sehr. Ich vermisse ihn! Die Einsamkeit auf meiner Reise war ein Privileg in Zeiten der Globalisierung und der immer schneller werdenden Lebensweise. Es gibt in dieser modernen Welt keine Zeit mehr zum Atmen. Die Wanderung durch Island zeigte mir das wahre Leben.