DIE ENTDECKUNG DER DRAKENSBERGE

EIN FAMILIEN ABENTEUER IN DER WILDNIS

Wir wollen leben! Wir wollen Freiheit! Und wir wollen ganz viel Zeit! Wir wollen ausbrechen aus dem Universum voller Autos, Straßen, gestresster Menschen, Supermärkte und Neubausiedlungen. Wir sind infiziert von der Schönheit dieser Erde und wir wollen sie in ihrer ursprünglichsten Form erleben. Mit meiner Familie lebe ich für mehrere Monate am Fuße der südafrikanischen Drakensberge. Wir fahren nicht in den Zoo, wir fahren nach Afrika!

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Keine Uhr, kein WLAN, kein Fernseher, kein Handyempfang – wir haben alles, was wir im Leben brauchen, die Wildnis und uns. Fern von den Spuren der Zivilisation leben wir in einem Haus am Ostkap, ungefähr vierzig Kilometer von Lesotho entfernt. Mitten im Nichts, Flugzeuge gibt es hier nicht, nur Adler, die am Himmel kreisen. Hier sehen wir die Welt, wie sie wäre – ohne uns. Und hier sehen wir, wie unser Baby wächst, sich entwickelt und die Welt entdeckt, ohne dass wir dabei abgelenkt sind vom hektischen Pensum dieser irren Welt. Ich bin jetzt Vater und möchte sehen, wie mein Sohn seinen ersten Zahn bekommt, wie er seine ersten Schritte macht und was es bedeutet rund um die Uhr für den neuen Erdbewohner da zu sein, auch um zu erkennen, was Mütter Tag für Tag leisten. Wickeln, Füttern, Schlafen – so geht das Papa.

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JEDEN TAG DASSELBE

Wir fühlen uns wohl in unserem neuen Wildnis-Zuhause, mit ganz viel Platz, denn auch unser kleiner Mann blüht am Rande der Zivilisation so richtig auf. Zuhause hätten wir diese Dinge nicht erlebt, denn dort ist die Landschaft zugebaut. Unser Tagesablauf ist jeden Tag gleich. Morgens spielen, dann ein Mittagsschlaf und am späten Nachmittag die Welt entdecken. Wir erkunden gemeinsam die Wildnis, klettern auf Berge, in Höhlen, laufen durch Büsche, schwimmen durch wilde Flüsse, oder sitzen einfach nur da und genießen die grenzenlose Weite. Wir führen ein einfaches Leben. Stunden sind keine Sekunden, Stunden fühlen sich an wie Tage. Die Zeit vergeht langsamer, wenn man sich die Zeit nimmt. Und was gibt es Wichtigeres als Zeit?

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DER SUPERMARKT

Alle zehn Tage fahren wir in die nächstgelegene Siedlung einkaufen. Hin und zurück sind es 46 Kilometer. Eine Strecke, die einen ganzen Tag beansprucht, weil wir uns durch tiefe Schlaglöcher, vorbei an großen Steinen, die auf dem 4x4-Weg liegen, kämpfen müssen. Langsam und mühsam bewegen wir unser Auto durch alle Hindernisse, bis wir schließlich völlig erschöpft im Dorf ankommen.

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Hier im lokalen Supermarkt gibt es keine Luxusartikel, keine Werbung, die unzählige Dinge anpreist, weil sie schön, schick und scheinbar wichtig sind. Hier gibt es nur das Wesentliche und manchmal sogar selbst das nicht. Oft stehen wir vor leeren Regalen, und trotzdem finden wir eigentlich immer alles, was wir benötigen. Südafrika, der Supermarkt und die Wildnis zeigen uns, mit wie wenig wir zurechtkommen können. Sogar mit einem Baby ist es einfach auf Dinge zu verzichten. Wenn du die Dinge nicht hast, dann hast du sie nicht. Dem Baby sind teure Spielzeuge egal, denn alles, was es braucht, ist Liebe und Sicherheit. Weit weg von zuhause schauen wir hier von außen auf die Dinge drauf. Es ist ein Prozess, den wir durchleben, mit immer weniger auszukommen, um dabei immer mehr Zeit für uns selbst zu haben.

NUTZLOSE DINGE

Ich denke oft darüber nach, wie unzählige Väter die meiste Zeit in Büros, Fabriken oder auf Baustellen verbringen, für irgendwelche Projekte, um Geld zu verdienen, weil die Familie immer mehr davon benötigt. Das größte Projekt ist jedoch das eigene Kind, das meistens schon schläft, wenn der Vater nach Hause kommt. Um das große Ganze am Laufen zu halten, gehen sie schuften, bis der Arzt kommt. Für das Haus, die Wohnung, das Auto und für immer mehr Dinge, die eigentlich niemand braucht. Die meisten dieser Dinge verwesen früher oder später ohnehin im Keller und geraten völlig in Vergessenheit. Es benötigt außerdem sehr viel Zeit und Energie, um das Geld zu verdienen, das all den Überschuss verschluckt. Ohne es zu ahnen, verschwenden dabei viele Väter das Wichtigste, was sie besitzen – ihre eigene Lebenszeit.

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DER WINTER

Jeden Tag schauen wir bei einer Tasse Tee rauf auf die satten Berge. Zu Beginn unserer Reise sind sie noch mit Schnee bedeckt – bitterkalt ist es hier im Winter. Afrika und Schnee, das passt auf dem ersten Blick nicht zusammen, aber hier auf ungefähr zweitausend Metern sind Schnee und Kälte keine Seltenheit. Die Temperaturen sinken nachts regelmäßig auf unter null Grad. Unseren kleinen Mann packen wir jeden Abend dreilagig in seinen dicken Astronautenanzug ein und bis er abhebt, dauert es meist nur wenige Minuten.

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Das Haus ist nicht isoliert und hat, bis auf kleine Elektrowärmer, keine Heizungen – deswegen ist es auch drinnen bitterkalt. Eigentlich hat das Haus die Bezeichnung Haus erst gar nicht verdient, es ist vielmehr eine etwas bessere Laube. Auch wenn es von außen robust aussieht, in einem guten Zustand ist es nicht. Die Wände sind so dünn, dass wir ohne Probleme durch sie hindurch flüstern können. Man bekommt drinnen leicht den Eindruck, als würde man draußen schlafen, denn der Wind peitscht durch die Räumlichkeiten und sogar die Vorhänge bewegen sich aufgrund der leichten Böen, die durchs Schlafzimmer ziehen. Höchsttemperatur morgens am Kamin: zwölf Grad.

GEDULD

Die Tage sind hier unterhalb von Lesotho nicht sehr lang. Um sechs Uhr abends ist es dunkel. Die Nacht ist schwarz, so schwarz, dass man nichts, aber wirklich auch gar nichts erkennen kann. Eingemummelt sitzen wir jeden Abend bei einem Glas Wein am Kamin, lauschen dem Schnarchen unseres Sohnes und unterhalten uns über das Leben. Wann im Leben hatten wir schon einmal so viel Zeit zusammen? Wir haben so viel Zeit, dass wir den Bäumen und Pflanzen um uns herum beim Wachsen zusehen können. Wenn es eine Sache gibt, die man hier draußen lernt, dann ist es: Geduld.

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Hier draußen sehen wir nur das, was wirklich existiert – wir sind nicht rastlos, haben Zeit anzukommen und verharren an einem Ort. So wie die Menschen, die hier in der Wildnis leben, die „Xhosa“, ein südafrikanisches Volk, dessen Vorfahren die „San“ sind, die geduldig, tagelang, wochenlang in der Natur sitzen, nichts tun und im Einklang mit ihrem Dasein leben. Sie genießen die leeren Momente. Das Wort Stress existiert in ihrer Sprache nicht. Sie sind mit der Natur verbunden und übertragen ihre Gelassenheit voll auf uns.

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Bei einer Wanderung stolpern wir zufällig über jahrtausendalte Wandmalereien der San. Wir berühren sie nicht, vor Ehrfurcht, und stellen uns vor, wie es gewesen sein muss, damals an diesem Ort. Wahrscheinlich nicht viel anders als jetzt, denn dieser Ort darf wild bleiben und ist noch nicht vom Menschen aufgefressen worden. Die mystische Welt der San fasziniert mich.

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NUR EIN WEG FÜHRT IN DIE WILDNIS

Unser Haus liegt tief versteckt am Rande der Zivilisation. Nur ein kleiner unwegsamer Schotterweg führt an diesen Ort. Unzugänglich und abgelegen liegt unser kleines Heim mitten im Busch. Der 4x4-Weg endet direkt vor unserem Haus. Ab hier gibt es nichts außer Natur. Am Ende des Weges ist ein kleines Tor – wir nennen es das Tor zu Wildnis –, die letzte Spur der Menschen, bevor das weite wilde Land beginnt. Bis nach Lesotho kann man von hier wandern, ohne jemals auf irgendein Dorf oder auf Menschen zu treffen. Kilometerweite Wildnis, direkt vor unsere Haustür. Es ist unser kleines Paradies mitten in den Drakensbergen.

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MIT DEM BABY AN EINEM WILDEN ORT

Baby und Wildnis, das sind erst einmal zwei Dinge, die man nicht unmittelbar miteinander assoziiert. Das stimmt, denn um hier draußen in der Abgelegenheit zu leben, benötigt es eine solide Planung und Organisation. Alles muss akribisch vorbereitet werden, und es muss auch immer einen Plan B und C und am besten noch D geben. Jedoch haben wir hier die gleichen Probleme wie alle anderen Eltern auch, nur dass wir nicht zuhause sind. Unserem kleinen Mann ist es egal, wo er ist. Ja, er entfacht sogar in schwierigen Situationen, den schon manchmal verlorengegangenen Optimismus in uns. Er zeigt uns immer wieder, Tag für Tag, dass wir das Richtige tun. Dass die Freiheit seiner Eltern auch ihm gut tut. Dass die Präsenz beider Elternteile das Beste für ihn ist, was er, in seinem noch jungen Leben, braucht. In der Wildnis sind wir nicht, wie zuhause, abgelenkt und hier können wir unserem Baby die ganze Bandbreite der Liebe schenken, die es verdient hat. Es ist spürbar – unser kleiner Mann ruht in sich und saugt schon jetzt die Kraft dieser wunderbaren Natur auf. Er ist so richtig angekommen auf dem blauen Planeten und freut sich jeden Morgen, wenn er von den lauten geheimnisvollen Geräuschen der südafrikanischen Tierwelt geweckt wird.

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WURZELN UND FLÜGEL IN EINER STILLEN WELT

Einheimische Wanderer, die irgendwo aus den Bergen kommen, passieren hin und wieder unsere Hütte und bedienen sich an unserem Wasserhahn. Sie staunen über die drei Europäer in der Wildnis. Ja, die wenigen Einheimischen, die hier leben, fragen uns, wie wir diesen abgelegenen Ort jemals gefunden haben. Ein ungewöhnlicher Ort für ein Baby – das bekommen wir zu hören. Doch was ist ungewöhnlicher für ein Baby: ein Leben in einer künstlichen, hektischen, betonierten Welt oder ein Leben in einer elementaren, naturnahen, stillen Welt?

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Wie Goethe einst schrieb: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Mit diesen einfachen Worten beschreibt er, was wir brauchen, um tatkräftig und lebensfroh durchs Leben zu gehen. Dieses Zitat ist die Basis für unsere eigene Lebensgestaltung. Wir tun das, worauf wir Lust haben. Jeden Tag atmen wir frische Bergluft, hören der Natur zu, sehen den Sonnenaufgang, den Sonnenuntergang, genießen die Fortschritte unseres Kindes und träumen von unserer abenteuerlichen Zukunft. Wir sind von der Freiheit umzingelt und wollen den Zustand der Ballastlosigkeit für immer behalten. Tief in uns drin spüren wir, dass wir hoffnungslos und unheilbar am Freiheitsdrang erkrankt sind. Es ist ein schönes Gefühl, denn das ist es, wonach wir im Leben immer gesucht haben: Freiheit, Zeit und Liebe. Wir vollbringen hier keine Wirtschaftswunder und auch werden wir mit dem, was wir tun, nicht reich. Aber das wollen wir auch gar nicht, denn unsere drei Herzen wollen nur dieses eine kostbare Leben genießen und uns dabei voll auf uns selbst konzentrieren, ohne dass wir dabei in den Zwängen und Erwartungen dieser Gesellschaft ertrinken. Wir werden nicht für immer an diesem wunderschönen Ort bleiben, aber wir werden unser Abenteuer und all die damit verbundenen Erinnerungen für immer in uns tragen. Es sind die leeren Momente, die Wurzeln und Flügel, die Freiheit, der Sonnenaufgang, die ersten Monate unseres Kindes, die wundervolle Magie der Wildnis, die uns für immer verzaubert hat, und die Liebe, die unsere Gesichter Tag für Tag zum Lächeln bringen werden. Unsere Begegnung mit den wilden Drakensbergen hat mich verändert. Wieder einmal konnte ich die Welt aus einem neuen Blickwinkel sehen. Es ist dieser wunderschöne Planet, der mir zeigt, dass die Zeit das Wichtigste ist, was wir haben. Ich lebe für meine Abenteuer und meine Freiheit – jetzt erst recht. Ich bin raus aus dem Vollgaszeitalter. So will ich leben!

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