DAS HERZ ISLANDS
AM RANDE DES HOFSJÖKULL
Ich hatte mich intensiv auf das bevorstehende Abenteuer vorbereitet und wollte meinen Rucksack durch die einsame Wildnis tragen. Der 4x4 Bus der mich zum Ausgangspunkt meiner Wanderung brachte, schleppte sich langsam durch das isländische Hochland. Ich starrte aus dem Fenster sah die Schönheit, die Einsamkeit und die Weite. Die Geröll- und Lava Landschaft hatte kein Platz für Zivilisation. Hier draußen war niemand, es war menschenleer, karg und völlig abgelegen. Ich kannte das Hochland sehr genau und wusste wie es sich anfühlte, abseits der Piste alleine zu sein, zu frieren, Durst und Hunger zu haben. Die Lektionen der Natur, hatten mir geholfen mich intensiv selbst kennenzulernen. Es war eine großartige Erfahrung und nun kehrte ich an diesen Ort zurück.
Zusammen mit Jochen, einem Abenteurer und Freund aus Erlangen, wanderte ich vom vulkanischen Gebirgszug Kerlingarfjöll in das ungefähr hundertzehn Kilometer entferne Tal Nýidalur. Unser Ziel war es das Þjórsárver Naturschutzgebiet zu durchqueren. Das Gebiet ist das Herz, die geografische Mitte Islands und ist eine der einsamsten und abgelegendsten Regionen der Insel. Begrenzt durch den Hofsjökull Gletscher im Norden und durch die Stein- und Sandwüsten im Osten, Süden und Westen ist das Naturschutzgebiet ein üppiges Feuchtgebiet das von Tundra Wiesen durchtränkt ist. Zahlreiche Gletscherabflüsse überfluten das Gebiet welche das Wandern in dieser Region erschweren. Während meiner Islandquerung 2014 hatte ich es nicht geschafft in das Þjórsárver Gebiet einzudringen. Die kalten Gewässer mit heftigen Strömungen und bauchnabelhohen Wasserpegeln versperrten mir den Weg und ließen mir keine andere Wahl als umzukehren. Ich musste das Gebiet damals großräumig umgehen und auch jetzt wusste ich nicht wie die Situation vor Ort aussah.
ENDLICH EIN TEIL DER NATUR
Das Packraft, ein Rucksackboot von Micro Rafting Systems, sollte uns diesmal dabei helfen, die schwierigen Flusspassagen sicher zu überqueren. Das Boot ist für Wildwasser geeignet, wiegt nur drei Kilogramm und lässt sich problemlos transportieren. Trotz des geringen Gewichts war mein Rucksack gnadenlos schwer. Die gesamte Ausrüstung plus Verpflegung für zwölf Tage lastete auf meinen Schultern. Auf den ersten Metern durch die weite Einsamkeit spürte ich jedes einzelne Gramm der insgesamt achtundzwanzig Kilo auf meinem Rücken. Einzig die Gewissheit dass der Rucksack täglich, durch die Reduzierung des Essens, an Gewicht verlieren würde stimmte mich positiv und ließ mich die Schlepperei ertragen. Wir hievten unsere Rucksäcke vorbei an majestätischen Gebirgszügen, Wasserfällen, Gletschern und Vulkanen. Farbenprächtige Pflanzen hauchten der Mondlandschaft das Leben ein, hier herrschte Einsamkeit und Natur pur. Mit aufrechtem Gang liefen wir weglos durch eine schwarze Lavawüste, der Boden war scharfkantig und spitz. Die Lavaformationen um uns herum zauberten bizarre Höhlen hervor und große Schneefelder schmückten die schwarze Trostlosigkeit. Endlich fühlte ich mich wieder als Teil der Natur - nicht mehr als ein schlaffer Büroangestellter, dessen einzige körperliche Aktivität das Bewegen der Computermaus war. Hier draußen war ich frei, losgelöst und konnte das Leben spüren.
Der Wind hatte heute richtig Fahrt aufgenommen und wühlte den Sand- und Geröllboden auf. Es regnete leicht und unsere Zelte standen schutzlos in der weiten isländischen Moränenlandschaft. Wir mussten unsere Heringe, wie in jeder Nacht, mit Steinen beschweren damit die Zelte einen festen Stand bekamen und nicht wegflogen. Die Umgebung wirkte bedrohlich, dunkle Wolken fegten über uns hinweg und der aufgewirbelte Sand der sich auf meiner Haut festsetzte, fühlte sich an wie Schleifpapier. Die Zelte flatterten im Wind und sogar im Essen waren die kleinen Sandkörnchen noch zu spüren.
MIT VOLLER WUCHT INS KALTE WASSER
Die Wasserpegel der Gletscherflüsse die vom nördlich gelegenen Hofsjökull ablaufen, waren wie erwartet sehr hoch. Das überdurchschnittliche gute Wetter der letzten Wochen ließ das Schmelzwasser ansteigen und unser Packraft durfte nun endlich zum Einsatz kommen. Wir spannten unsere Rucksäcke auf den Bug, befestigen ein fünfzig Meter Seil am Heck des Bootes und querten einzeln und nacheinander die Gletscherflüsse. Die Überfahrten waren haarsträubend, da wir keine Wildwasser Erfahrung hatten. Ich hatte Angst, denn die Strömungen waren stark und der schwere Rucksack am Bug ließ das Boot tief ins Wasser einsinken. Ich versuchte meine Gedanken beiseite zu schieben, dass ich mit dem Boot kentern und im eiskalten Wasser ertrinken könnte. Mit voller Wucht stieß ich mich beim ersten Fluss mit dem Paddel vom Ufer ab und fuhr blitzschnell los. Mein Herz raste und ich paddelte so stark ich konnte. Ein Wildwasserkurs wäre vor der Tour sicherlich sinnvoll gewesen. Als ich irgendwie auf der anderen Seite des Flusses ankam war ich erleichtert, stieg überglücklich aus dem Boot aus und ließ einen heftigen Schrei los. Jochen, der zurückgeblieben war, zog das Boot mit dem Seil an sein Ufer zurück und querte den Fluss danach etwas routinierter als ich. Es war ein großartiger Spaß, auch wenn nicht ganz ungefährlich.
Wenn die Furten nicht zu tief waren und wir diese zu Fuß durchwaten konnten, nutzen wir das Boot auch als reine Gepäckbeförderung. Wir positionierten uns jeweils an der gegenüberliegenden Seite des Ufers und hielten das Boot mit den Seilen in Stellung. Jochen zog das Boot heran während ich darauf hoffte, dass das Gepäck nicht untergehen würde. Doch diese Art des Transportes hatte sich als nicht sinnvoll herausgestellt. Aufgrund von Strömungen und den starken Winden überschlug sich unser Packraft am Fuße des Blautukvislarjökull und landete, mit der zum Glück stark befestigten Ausrüstung, kopfüber im Wasser. Jochen hatte die allergrößte Mühe, das umgekippte Boot mit dem Seil aus dem Wasser zu ziehen. Die Verzweiflung stand uns ins Gesicht geschrieben, denn eine nasse Ausrüstung konnte in dieser klimatischen Region den Abbruch der Tour bedeuten. Nun standen wir da, durchgefroren im peitschenden Wind und mit nasser Ausrüstung. Außer unseren Schlafsäcken und ein paar Kleidungstücken ist nicht viel trocken geblieben. Meine Stiefel waren vom Wasser durchtränkt und sollten auch die nächsten Tage nicht mehr trocken werden. Keine Wohltat für die ohnehin schon sehr geschundenen Füße.
Während wir gerade unsere nassen Rucksäcke kontrollierten und die trocken gebliebene Kleidung überstreiften, hob das Boot erneut ab. Der Wind katapultierte das Packraft, inklusive dem zweigeteilten Paddel, in die Luft, wirbelte es umher und beförderte es flussabwärts. Nur aus Reflex konnte ich die eine Hälfte des Paddels retten, die andere ging in den Fluten des eiskalten Gewässers sofort unter. Hilflos schauten wir dem abtreibenden Boot hinterher. Ohne Packraft war der weitere Verlauf der Wanderung ungewiss. Doch plötzlich blieb das Boot mehrere hundert Meter flussabwärts auf der anderen Seite des Ufers stehen, es hatte sich verfangen. Vom Adrenalin getrieben zog Jochen ohne zu Zögern seine trockene Kleidung aus und querte zu Fuß den Fluss, den wir noch vor wenigen Minuten mit dem Boot bezwungen hatten. Das Wasser stand ihm bis zur Hüfte, ich hatte wirklich Angst um ihn. Er kämpfte gegen die kalten Fluten an und seine Wanderstöcke vibrierten in der Strömung. Völlig erschöpft und sichtlich gezeichnet von den Strapazen, rettete Jochen schließlich das Boot. Wir konnten unsere Reise mit halbem Paddel aber mit vollständigem Boot fortsetzen.
DIE GLAZIALE APOKALYPSE
Die Landschaft um uns herum wirkte archaisch und die körperlichen und psychischen Herausforderungen quälten uns. Wir waren voll drin in der Wildnis. Da war unser Abenteuer, unsere Freundschaft und diese spektakuläre Schönheit. Natürlich gab es tausend gute Gründe die dagegen sprachen, hier an diesem menschenfeindlichen Ort zu sein. Warum macht man so etwas und setzt sich all den Strapazen aus? Das eine Wort, das alle Fragen zunichtemachte, hieß: Freiheit! Frei vom Dauerstress, frei von Zwängen und frei von Verpflichtungen. Gemeinsam saßen wir in einer heißen Quelle, die Sonne senkte sich langsam, sie malte Gold und die frische Luft war so klar wie unsere Gedanken. Wir gurgelten den Rum aus unserem Flachmann und beobachteten die Landschaft. Die Zeit schien still zu stehen. Die Ursprünglichkeit die sich vor unseren Augen auftürmte, war überwältigend und angsteinflößend zugleich. Diese mächtige Gletscherwand vor uns, verkörperte die glaziale Apokalypse. Ein spannender Natur-Blockbuster, der vor vielen Jahrtausenden geschaffen wurde. Wir verstummten in Ehrfurcht.
UNTERWEGS DURCHS DÜSTERE LAND
Unsere Reise führte uns weiter in östliche Richtung. Unterhalb am Múlajökull, einer gigantischen Gletscherzunge des Hofsjökull, zeigten sich zahlreiche dunkle Eisberge, aus denen gelegentlich das unverwitterte und blau schimmernde Gletschereis hervorblitze. Kegelförmige Eisskulpturen thronten als Wächter am Eingang zum düsteren Land. Es regnete, die Umgebung wirkte grau und erdrückend. Die Schlammfelder, die dunklen Sandbänke, das dunkle Eis, die dunklen Wolken und die Kälte erinnerten an Mordor. Zum Fürchten schön. Es schien als wäre der Schöpfung die Farbe ausgegangen. Hier existierte kein Leben.
Aufgrund der immer wiederkehrenden Wasserrinnen, die wir durchwaten mussten, marschierten wir überwiegend in Sandalen und Shorts durch das finstere Labyrinth. Das Wandern war hier durch flaches Wasser mit sandig-sumpfigem Untergrund besonders schwierig. Wir beugten uns nach vorne und stocherten mit unseren Wanderstöcken in den Boden um Tragfähigkeit und Konsistenz zu prüfen. Meistens hielt der Boden unserem Gewicht problemlos stand. Nur einmal sank ich knietief in den treibsandartigen Untergrund ein. Hektisch und panisch versuchte ich dem Sog zu entkommen, doch die schnellen Bewegungen waren kontraproduktiv und ich sank tiefer und immer tiefer ein. Ich versuchte mich zu konzentrieren und zog mit langsamen Bewegungen erst meinen linken und dann den rechten Fuß aus dem Sumpf. Wie auf Eiern und in Zeitlupe bewegte ich mich rückwärts bis ich endlich wieder festeren Boden unter den Füßen hatte. Der Sog war so stark, dass ich unbemerkt meine linke Sandale im Sumpf verloren hatte. Es war so ärgerlich, nun musste ich die nächsten Kilometer tatsächlich auf Neoprensocken laufen, ehe ich wieder in meine nassen Wanderstiefel schlüpfen konnte.
DIE FARBENPRÄCHTIGE OASE
Hinter Mordor lag die Oase Þjórsárver. Eine überwältigende Farbenvielfalt präsentierte sich uns unmittelbar nach dem düsteren Land. Wie ein gut versteckter Schatz lag sie da, die unberührte Landschaft. Schneehühner, Polarfüchse und eine schier unendliche Anzahl verschiedener Pflanzen versammelten sich hier. Kaum zu glauben, dass in diesen Breitengraden doch noch Leben existierte. Auf dem Gipfel des 1128 Meter hohen Arnafell konnten wir das ganz große Panorama genießen. Ein Rundumblick für den sich die Anstrengungen der letzten Tage wirklich gelohnt hatten. Eine Weite wie ich sie selbst auf Island nur selten erleben durfte. Gefühlt konnten wir die ganze Insel überblicken. Da war die weiße Gletscherwüste im Norden und die farbenprächtige Oase im Süden. Die tentakelartigen Gletscherflüsse der Þjórsárver wirkten von hier oben wie ein Gemälde, ein Kunstwerk der Natur. Im Osten sahen wir den über hundert Kilometer weit entfernten größten Gletscher Europas, den Vatnajökull. Aus westlicher Richtung beobachteten uns die Berge vom Ausgangspunkt unserer Wanderung. Es gab keine Worte, die diese Weite beschreiben konnten.
Am Fuße des Arnafell, funkelte ein befremdlich wirkender Gegenstand unter einem Steinhaufen hervor. Ungewöhnliche Dinge sprangen hier, mitten im Naturschutzgebiet, sofort ins Auge, welche offensichtlich nicht in die Landschaften gehörten. Neugierig näherten wir uns dem Funkeln und erkannten einen silbernen Briefkasten, der in der Sonne reflektierte. Im Briefkasten versteckt lag ein Gästebuch, das zur Erhaltung der isländischen Natur aufrief. Wir zählten neunundzwanzig Einträge seit 2009! Wahnsinn! Erst jetzt realisierten wir an welch einem außergewöhnlichen Ort wir uns befanden und wie abgelegen und unberührt diese Region tatsächlich war. Alle Einträge waren, wohl meist von Wissenschaftlern, in isländischer Sprache verfasst. Mit voller Begeisterung blätterten wir durch die wenigen Seiten und verewigten uns schließlich mit dem dreißigsten Eintrag. Jenseits der ausgetretenen Touristenpfade durfte dieser Ort wild bleiben.
UMZINGELT VOM GLETSCHERFLUSS
Die Sonne hob sich über das weite Land und wir zogen mit unseren Rucksäcken weiter. Der Weg führte uns durch flaches Moor- und Sumpfgebiet. Unsere Tagesetappen waren meist sehr kurz gewählt, da die großen Furten der Gletscherflüsse viel Zeit und Kraft beanspruchten. Völlig verzweifelt und vom Wasser umzingelt stand ich bei der letzten großen Querung auf einer kleinen Kiesinsel mitten im Fluss. Ich war gefangen und konnte weder vor, noch zurück. Unglücklicherweise hatte Jochen, der vorangegangen war, das übriggeblieben Paddel in seinem Rucksack verstaut. "Barfuß", also ohne linke Sandale konnte ich die bevorstehende heftige Strömung nicht mehr bewältigen. Bis hierher und nicht weiter, ich steckte fest. Ich fluchte und fragte mich wie ich in diese Situation gelangen konnte. Das Boot nutzte mir nichts, denn ohne Paddel würde ich unkontrolliert und völlig hilflos die Strömung herunter rauschen. Hektisch versuchte ich das Seil, das sich verheddert hatte, zu entknoten um es später, verbunden mit einem Stein, an das andere Ufer auf dem Jochen ungeduldig wartete zu bugsieren. Das Seil sollte den ungefähr zwanzig Meter breiten Flussarm überbrücken und als Transportmittel für das dringend benötigte Paddel dienen. Trotz Neoprensocken waren meine Füße und Beine nach fünfzehn Minuten im Wasser eiskalt. Der Wind trug sein Übriges zum Wohlempfinden bei. Ein Gefühl unterhalb der Hüfte hatte ich schon lange nicht mehr. Irgendwie fummelte ich das Seil schließlich auseinander, befestigte den Stein und warf so fest und so weit ich konnte. Erst nach dem zweiten oder dritten Wurf erreichte der Stein das Ufer. Rasch knotete Jochen das Paddel am Seil fest und warf es umgehend zurück ins Wasser. Endlich, ich zog, mit viel Vorsicht und langsamen Bewegungen, das ersehnte Paddel auf meine kleine Kiesinsel. Geschafft! Ich machte mich bereit für die letzte große Überfahrt und rauschte sichtlich erleichtert und mit ganz viel Adrenalin ans rettende Ufer. Sofort liefen wir weiter um wieder Gefühl in die Gliedmaßen zu bekommen.
FERN VOM ALLTAG VERGAßEN WIR DIE ZEIT
Auf den letzten zwanzig Kilometern begegneten uns keine Gletscherflüsse mehr. Vielmehr liefen wir nun durch trockenes und staubiges Gebiet. Wir dachten, dass die Trostlosigkeit der letzten Tage nicht zu übertreffen sei, doch diese Wüste die sich uns gerade bot, übertraf jede je dagewesene Trostlosigkeit. Ein Weg durch das absolute Nichts. Ich zählte keine Wolke am Himmel, die Sonne brannte und erstmals konnten wir in kurzen Klamotten laufen. Es gab kein Trinkwasser, der Schweiß triefte und wir wanderten nicht mehr im aufrechten Gang sondern in gekrümmter Haltung. Immer wieder mussten wir Pausen einlegen, denn die Trockenheit machte uns fertig. Meine Lippen waren durch die Sonne und den trockenen Wind der letzten Tage aufgeplatzt. Schließlich mobilisierten wir in der Hitze noch einmal sämtliche Reserven und marschierten am Abend im Tal Nýidalur ein. Völlig platt aber erleichtert, umarmten wir uns im Ziel. Wir hatten es gemeinsam geschafft. Fern vom Alltag vergaßen wir die Zeit. Tief in der isländischen Wildnis erlebten wir unglaubliche Stille und Zufriedenheit. Wir träumten von einem Abenteuer, rissen uns los und marschierten in Richtung unbekanntes Land. Gemeinsam fanden wir unseren Weg durch die weglosen Wüsten und alles was zählte waren unsere unvergesslichen Momente. Wir packten unser Leben und ließen die anderen zuhause weiter hetzen. Die Vollgaswelt da draußen beschleunigt sich immer weiter. Wir nicht.